Dienstag, 25. Oktober 2011

Skat am Revanchistentisch

Ostpreußen – davon hat man davon gehört, na klar. Das wurde im Schulunterricht erwähnt. Ostpreußen war mal ein Teil von Deutschland, lag an der Ostseeküste und fiel nach dem Krieg an Polen und die Sowjetunion. 

Und was weiss man sonst noch darüber unter den jüngeren Generationen?
Nichts bis gar nichts fürchte ich. 

Für die Mehrheit der jüngeren Generationen in diesem Land ist Ostpreußen wohl in etwa so fern und exotisch wie Nordosthawaii oder Papua Neuguinea.

Für mich sah das jedoch schon immer ein wenig anders aus. 


Gedenkstein an der ehemaligen Grenze zur Provinz Ostpreußen, mit eingearbeitetem Ostpreußischen Wappen. 

Ein Teil meiner Familie stammt aus Ostpreußen, etwa aus dem Gebiet, in dem sich Catherina von Bülows Gut in meinem Buch „Wolfwechsel“ befindet. 

In diesem Blogpost möchte ich wie auf der Seite zu Wolfswechsel hier, erläutern weshalb ein geistig mehr oder weniger gesunder und durchschnittlich gebildeter deutscher Autor ausgerechnet auf die Idee verfiel ein Buch über Ostpreußen zu schreiben.  

Ich besitze einen Brief, geschrieben im Dezember 1944 von einem Mann, der sich bereit machte, mit ein paar Pferden und einem Heuwagen voller Möbel, Papiere und Bilder seiner Heimat den Rücken zu kehren. Er ahnte wohl dass es ein Abschied für immer werden würde.

Doch er war auch ein typischer Ostpreuße. Und diese Leute gaben sich nicht so leicht geschlagen. Das war ein sturer, hart arbeitender Menschenschlag, ziemlich von sich selbst und der eigenen Kraft überzeugt. Es gehörte schon mehr als nur ein Weltkrieg und die gesamte Rote Armee dazu, um diesem Menschenschlag ihre Hoffnungen auszutreiben.

An dem Tag, als er diesen Brief schrieb, wusste dieser Mann nicht an welcher Front seine Söhne und Neffen kämpften. Er wusste ja noch nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben waren.
Dennoch schreibt er in jenem Brief, er hätte eine gute, feste Metallkiste neben dem Haus vergraben, und in jener Kiste sei genug Werkzeug, um damit das Haus wieder aufzubauen, sollte es zerbombt oder zerschossen werden. Und wer immer von ihnen zuerst in die Heimat zurückkehre, der solle jene Kiste ausgraben und damit beginnen wieder auf zu bauen, was zerstört worden war.   

Der Mann, der jenen Brief schrieb war mein Urgroßvater.

Ich weiss, wo dieses Haus einst gestanden hat. 

Ich habe mir fest vorgenommen eines Tages dahin zu fahren, in den nun russischen Teil Ostpreußens, und zu dem Ort zu gehen, an dem es stand.

Wer immer dort jetzt leben mag, ob Pole, Russe, Ukrainer, Kasache, Litauer oder Lette, ich hoffe er wird mich als Gast und nicht als Gegner empfangen. 

Und ich hoffe, wer immer er oder sie sein mag,  wird ausserdem nichts dagegen einzuwenden haben, wenn wir gemeinsam einer Flasche den Hals brechen, auf unsere gegenseitige Gesundheit anstoßen und dann – ja dann uns womöglich mit Hacke und Schaufel zusammen aufmachen, um an jener Stelle nah beim Haus nach dieser guten,  festen Metallkiste zu graben, und nachzusehen, ob sie die Zeiten und Kriege tatsächlich überdauert haben mag. 

Man mag einwenden: auch andere Leute besitzen merkwürdige Briefe von ihren Vorfahren und kommen dennoch nicht auf die Idee Romane über so exotische Gegenden wie Ostpreußen zu schreiben.
Das ist richtig.

Aber vor diesem Brief kam ja der „Revanchistentisch“.

Der „Revanchistentisch“?


Ja, das war jener Tisch, an dem sich bei Familienfeiern, die älteren Damen und Herrn versammelten und sich in ihrem seltsamen Dialekt darüber austauschten, wer neulich gestorben war, oder krank geworden, oder in ein Altenheim umgezogen.  

Unter uns jüngeren Familienmitgliedern wurde dieser Tisch scherzhaft als  „Revanchistentisch“ bezeichnet und die jährlichen Heimattreffen, zu denen die Grosseltern fuhren, waren nur folgerichtig als „Revanchistentreffen“ bekannt. 

Natürlich hatten die älteren Damen und Herren am „Revanchistentisch“ ihre alte Heimat nicht vergessen. 

Aber da war auch keiner darunter, der je ernsthaft an der Gültigkeit der Grenzen zu Polen und Russland gezweifelt hätte, oder sich gegen Willy Brandts Ostverträge stemmte. Erika Steinbach war an jenem Tisch jedenfalls eine suspekte Figur. 

Zumal sie noch nicht einmal den richtigen „Stallgeruch“ mitbrachte, da ihre Familie ja nie wirklich in Ostpreußen ansässig gewesen war und die Leute an unserem „Revanchistentisch“ auf einer mehrere hundert Jahre währende Familientradition in Königsberg, an der kurischen Nehrung oder dem Frischen Haff  verweisen konnten.


 Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt. Jener Mann der versprach: Mehr Demokratie in Deutschland zu wagen. Brandt war auch ein Mann mit Humor. Von ihm ist folgendes Bonmot überliefert: "Wer nur vier oder fünf Flaschen Wein im Keller hat, hat relativ wenig, wer aber vier oder fünf Flaschen im Kabinett hat, hat relativ viel."



Manchmal liess man sich an jenem Tisch auch dazu hinreissen, von etwas anderem als nur Hochzeiten, Krankheiten und Beerdigungen zu reden, manchmal sprach man da auch über den Krieg oder die Flucht. 

Ich habe bei solchen Gelegenheiten in der Regel meine Ohren aufgesperrt und aufmerksam zugehört. „Wolfswechsel“ verdankt diesen Erzählungen am „Revanchistentisch“ zwei ausserordentliche Episoden. Die beide auf Tatsachen beruhen und die mir lange Jahre niemals wieder wirklich  aus dem Sinn gingen, bis ich sie in dem Roman verarbeiten konnte.

Würde man heute im Jahr 2011 den guten alten „Revanchistentisch“ noch einmal besetzen wollen, so würde er nahezu leer bleiben, weil kaum irgendeiner von all den alten Herrschaften noch am Leben ist, um seinen angestammten Platz daran einzunehmen.

Ihre Geschichten sind mit ihnen gegangen. Und was waren manche davon doch für faszinierende Erzählungen.

Keiner hat sie je aufgeschrieben. Kaum einer, der sich bis heute dafür interessiert. Schliesslich waren das die Geschichten der „kleinen Leute“.  

Geschichten, für die selten genug Raum in den Geschichtsbüchern gewesen war, und für die die Historiker ihre Federn nicht gespitzt hätten.  

Dennoch sind es gerade diese Geschichten, in denen sich, wie in einem Brennglas, die grosse Historie in den Schicksalen der kleinen Leute spiegelte und erklärte.

Denn „keiner besitzt je irgendetwas wirklich. Mit einer Ausnahme: seiner Geschichte. Doch selbst die wird erst dann wirklich zu SEINER Geschichte, nachdem sie wenigstens einmal erzählt wurde. Denn erst im Erzählen scheidet sich Dunkles von Hellem, verwischen die Grenzen, wird Gut zu Böse und Böse zu Gut. Und - lernt man das eine vom anderen auf ganz persönliche Art  zu unterscheiden.“

Geschichte besteht nicht aus Geschichten, das ist schon wahr. 

Aber sie besteht eben auch aus mehr, als nur den trockenen Daten von Königskrönungen, Schlachten, Eroberungen und Kriegen. 

Diese „kleinen Leute“ mit ihren vermeintlich „kleinen„ Schicksalen jedenfalls konnten wenn sie schon nicht auf die Historiker zu hoffen hatten, um ihre Geschichten zu erzählen, immer noch darauf setzten, dass es zuweilen der ein oder andere unter den  Schriftsteller tat.  
Genau das habe ich mit „Wolfswechsel“ zwar nicht nur, aber eben auch versucht. 



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