Wolfswechsel



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1. Worum es geht und wer eine Rolle spielt

Für den recht unwahrscheinlichen Fall, dass sich irgendwer hierher verirrte, der noch keine Zeile von „Wolfswechsel“ gelesen hat und daher nicht weiss, worum es darin geht, hier der Klappentext des Romans, wie er bei Amazon.de zu finden ist:

Paris, Mai 1969.  Nach einer Razzia warten in der Zelle eines Pariser Polizeireviers Prostituierte, Freier und Zuhälter auf ihre Vernehmung. Darunter befindet sich auch ein Mann, der dort so gar nicht hinzugehören scheint: Wladislaus Wajda, der Chefchirurg des Warschauer Regierungskrankenhauses. Während die Verhafteten auf ihre Verhöre warten, bittet die junge Prostituierte Nathalie den alten Polen ihr eine Geschichte zu erzählen. So erzählt ihr Wajda seine eigene Geschichte.  Vor dem Krieg floh er als Jude nach Paris, wo ihn die deutschen Besatzer schließlich verhafteten und in ein Vernichtungslager deportierten. In einer Welt, die weder Mitleid noch Hoffnung kannte, war Wajda entschlossen zu überleben, ganz gleich um welchen Preis.
Und in den Wirren der letzten Kriegsmonate gelingt es Wajda tatsächlich aus dem Vernichtungslager zu fliehen.  Verkleidet als Wehrmachtshauptmann Jakob Weiss schlägt er sich durch die Einsamkeit der ostpreußischen Wälder in Richtung der russischen Front. Halb tot und ausgehungert wird er von den Bewohnern des abgelegenen Gutes Bülow gefunden. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Rote Armee über die Memel setzt und in Ostpreußen einfällt. So bietet Catherina, die Herrin des Gutes, dem vermeintlichen Hauptmann Jakob Weiss an das Ende des Krieges auf Bülow abzuwarten.  Doch als Wajda sich bei einer Wolfsjagd mit Tollwut infiziert, ist er nicht nur gezwungen, Catherina seine wahre Identität aufzudecken, sondern weiss auch: er hat allerhöchstens achtundvierzig Stunden Zeit um an rettendes Serum zu kommen. Und in den einsamen Wäldern um das Gut lauert eine weitere tödliche Gefahr, von der weder Catherina noch Wajda etwas ahnen können…


Mehr wird jetzt und hier nicht zum Inhalt verraten. Ich will schliesslich potenziellen Lesern nicht die Spannung verderben.
Ich habe "Wolfswechsel" geschrieben, weil es das Buch war, das ich über die Zeit und die Orte, die darin eine Rolle spielen, selbst immer schon habe lesen wollen. Ich habe den Roman nicht geschrieben, um damit auf Biegen und Brechen irgendeinen Beitrag zur Literaturgeschichte zu leisten. Denn dazu bin ich nun wirklich nicht der Richtige.
Ich habe ihn auf eine Art und Weise geschrieben, wie ich glaube, dass meine Generation eine Geschichte über jene Zeit interessant und ansprechend finden mag.  


2. Textauszug „Wolfswechsel“
 
Natürlich erwartet der liebe Leser,  vom Verfasser dieses Blogs auch ein wenig mehr als nur unbegründetes Eigenlob und einen Klappentext. Daher ist hier unten stehend ein Textauszug aus dem Roman zu finden.

In diesem Auszug treffen wir Wajda in eben dem Augenblick an, in dem es ihm gelungen ist aus dem Transport Richtung Ostseeküste zu fliehen.

Er ist allein, er hat Angst und er weiss, dass er eigentlich kaum eine Überlebenschance hat mitten im Winter in seiner dünnen Häftlingsuniform und ausgehungert und in einer ihm völlig unbekannten Gegend.  Dennoch macht er sich Richtung Norden auf.




Der Morgen dämmerte, als ich auf eine Gruppe Häuser stieß. Hunde bellten, eine Lampe wurde entzündet.

 Ich verkroch mich in einer Scheune. Ich blieb den ganzen Tag dort – eingegraben in klammes Heu. Ich hatte nichts weiter als Niemburgs Hinweis, nach Osten zu gehen. Beim Sprung aus dem fahrenden Zug hatte ich mir meine Schulter aufgeschlagen, Durst und Hunger wühlten durch meine Eingeweide, dennoch dauerte es nicht lange, bis ich in tiefen Schlaf fiel, der wohl Ähnlichkeit mit einer Ohnmacht hatte. Zuerst drang das wütende Knurren des Hundes durch den Schleier meiner Erschöpfung. Wahrscheinlich waren es nur Sekunden, doch in meiner Erinnerung dauerte es Minuten, bis sich zum Gekläff des Hundes auch das Gesicht des Polen gesellte, der mich mit einer Mistgabel bewaffnet aus dem klammen Nest aus Heu ans Licht hinaus trieb.

 Ich trug meine Häftlingsuniform, ich hatte Hunger und war erschöpft. Der Pole wusste, was er von mir zu halten hatte. Er war alt, sein Gesicht tief gefurcht. Die Hände schwielig und aufgerissen. Doch in seinem Blick lag etwas, dem ich vertraute.

Er hatte nicht vor mich auszuliefern. Er bat mich ins Haus. Ich verstand damals nur ein paar Brocken polnisch. Es reichte aus, dem, was er sagte, zu folgen.

 Er war allein hier. Im Nachbarort hatte ein deutsches Kommando in der Nacht zuvor zwei seiner Nachbarn an die Wand ihres eigenen Hauses gestellt. Aber ein Sieger, der seine Rache im Schutz der Dunkelheit verübt, meinte er, ist keiner mehr. Wirkliche Sieger haben es nicht nötig sich zu verstecken. Die töten in der Mittagssonne.

Wir aßen hartes Brot und Butter. Dann teilte er seinen Tabak mit mir. Er nannte mir seinen Namen: Andrzej.

„Du kannst nur diese Nacht bleiben“, sagte er. “Morgen Nacht musst Du weiter. Du könntest versuchen, Richtung Warschau zu kommen. Die Russen stehen schon auf der anderen Seite der Weichsel. Aber da müsstest Du an zu vielen Deutschen vorbei. Besser, du gehst nach Norden zur Küste und schlägst Dich dann nach Osten durch. Der halbe Weg da rauf führt durch leeres Land und Wald. Wenn es stimmt, was sie im Radio sagen, dann stehen die Russen an der Memel.“

Denselben Rat hatte Niemburg mir gegeben. Ich nahm es für ein gutes Zeichen.

 Nach dem Essen bat ich ihn um ein scharfes Messer. Er zog eine Schublade auf und brachte ohne ein Wort ein kurzes Küchenmesser.

 Ich streifte den Ärmel meiner Häftlingsuniform auf. Sobald er die Nummer auf meinem Arm sah, wusste er Bescheid.

„Ich habe Schnaps“, meinte er. „Schütt ihn drüber, wenn Du fertig bist.“

 Ich bin Arzt, ich wusste was ich tat. Von meiner Nummer würde bloß eine Narbe zurückbleiben.

Nachdem ich etwas von seinem Selbstgebrannten über die Einschnitte in meinem Arm gegossen hatte, verband ich die Wunde mit einem Stoffrest.

Diese Nacht und den folgenden Tag verbrachte ich auf Andrzejs Dachboden. Am Abend schenkte er mir einen Brotkanten, zwei Schachteln Streichhölzer, ein Hemd, ein Paar Hosen, eine Decke, einen Mantel und ein paar alte Schuhe.

 „Besser Du gehst nachts und hälst Dich tagsüber versteckt“, riet er mir.

 „Irgendwann stößt Du auf den Wald. Du musst quer durch. Es gibt da nur zwei Straßen, halte Dich trotzdem fern von ihnen. Der Wald reicht bis fast an die Küste. Wenn Du ihn hinter Dir lässt, musst Du zusehen, dass du so nah wie möglich an die Küste kommst. An der Küste entlang hälst Du Dich östlich. Wenn Du Glück hast, bist Du in sechs oder sieben Tagen bei den Russen.“

 Ich ging los. Felder und Waldstücke wechselten sich miteinander ab. Es war kalt. Aber die Kälte konnte ich ertragen. Kalt war es auch auf dem Appellplatz in Birkenau gewesen. Und die Sachen, die mir Andrzej geschenkt hatte, waren wärmer, als die dünne Häftlingsuniform. In dieser Nacht stieß ich weder auf Menschen noch Behausungen. Nur einmal meinte ich, ich hätte weit weg das Brummen eines Lastwagenmotors gehört. Gegen den Durst, aß ich Schnee.

 Ein Feuer, über dem ich ihn hätte auftauen können, wollte ich nicht machen.

 In einem Waldstück kratzte ich einen Schneewall zusammen, wickelte mich in Mantel und Decke, und versuchte dem Drang zu widerstehen, von dem Brot zu essen, das Andrzej mir gegeben hatte.

Als ich erwachte hatte es geschneit. Ich blieb bis zum Abend in meinem Versteck. Dann ging ich weiter. Kälte und Feuchtigkeit weichten meine Knochen auf. Es war dunkel und ich fiel ständig hin. Schon in der zweiten Nacht wurden die Baumgruppen, durch die ich mich schlug, dichter.

 Ein paar Mal sah ich noch entfernt Licht, und ein Mal bellte ein Hund.

 Andrzejs Brot hielt mich ungefähr bis zu dem Zeitpunkt am Leben, an dem ich den Wald erreichte, von dem er gesprochen hatte.

Irgendwann an diesem Tag musste ich die Grenze zwischen dem ehemaligen Polen und Ostpreussen überschritten haben.

 Für die besseren Berliner war Ostpreussen irgendein wild bewaldeter Flecken, weit weg von jeglicher Zivilisation, irgendwo kurz vor der Wasserscheide nach Sibirien. Bevölkert von schweigsam, mürrischen Leuten, denen man nachsagte, dass sie nur drei Dinge wirklich beherrschten: beten, arbeiten und saufen.

Dass der große Immanuel Kant ausgerechnet in Königberg, dem Zentrum Ostpreussens, gelebt und gelehrt hatte, fand man paradox.

Ich bin am Meer aufgewachsen und hatte später in der Stadt gelebt. Wald war mir fremd. Ich betrat ihn wie das Haus eines Unbekannten.

Ich hatte keine Vorstellung davon, wie man in einem Wald überlebt und kratzte die letzten Krümel Brot aus der Manteltasche und schob sie mir in den Mund. Ging dann weiter in die Richtung, die ich für Norden hielt.

Andrzej hatte gesagt, es gäbe keine Ansiedlungen in der Gegend, und es führten nur zwei Straßen hindurch. Da, wo es keine Straßen gibt, gibt es auch keine Menschen.

Ich hatte es endgültig satt, mich im Dunkeln von Sturz zu Sturz zu quälen. Das Risiko schien den Vorteil wert: von nun an ging ich tagsüber.

Es muss am Morgen des dritten Tages gewesen sein, als ich auf das Flugzeug stieß.

Raben und Krähen, die über einer Lichtung kreisten, wiesen mir den Weg. Vielleicht hatte ich ein totes Tier erwartet. Was ich fand, mutete ähnlich an: ein zerrissener Flugzeugrumpf, das Vorderteil tief in den Boden gefurcht. Ein gestrandetes Insekt. Ausgeweidet vom Feuer, das in ihm gewühlt hatte. Blech, Stahl und Gummi allein hätten keine Totenvögel angelockt: am Rande der Schneise, die das Flugzeug ins Unterholz gerissen hatte, lehnte eine Gestalt an einem Baum. Einen Moment glaubte ich, es sei noch Leben in ihr. Sobald ich aber einige Schritte auf sie zuging wurde klar, wieso die Vögel über dem Ort kreisten: die Gestalt am Baum hatte kein Gesicht mehr.

 Mit Geschrei verscheuchte ich die Raben, die auf seinen Kopf einhackten.

 Anus mundi - am Ende der Welt warten Schmerz, Frost und Vernichtung, keine Engel.

 Ich untersuchte den Toten. Seine Uniform wies ihn als Hauptmann aus. An einigen Stellen waren seine Sachen verbrannt, sein Oberschenkel wies einen tiefen Einschnitt auf. Zwar musste er noch versucht haben sich das Bein abzubinden, doch das kann seinen Tod höchstens hinausgezögert haben.

 Ich fragte mich, was er wohl dachte, als ihm klar wurde, dass er die Front nur deswegen überstanden hatte, um hier allein am Ende der Welt am Blutverlust zu krepieren.

 Während ich den Hauptmann untersuchte, stritten sich die Vögel lauthals um die magerere Beute im Inneren des Flugzeugrumpfs. 

 Ich hatte nur kurz hinein gesehen. Ich wusste, wie verkohlte Leichen rochen.

 Ein Toter braucht keinen Mantel, kein Hemd, keine Hose oder Stiefel.

 Ratten und Vögel hatten von seinem Gesicht nicht viel übrig gelassen, aber unter dem frischen Schnee sah ich in seiner Hand eine Pistole. Der linke Ärmel seiner Uniform war leer. Eine saubere Amputation. Hätte es selbst nicht besser machen können. Doch das Loch in seinem Schädel war zu tief und gleichmäßig, als dass Schnäbel es hätten schlagen können.

 Wer immer er war, den Mut, den er aufbrachte selbst ein Ende zu machen, zwang mir Respekt ab. Schon wegen dieses Mutes hatte er es nicht verdient als Vogelfutter zu enden. 

 Ich hatte nichts mit dem ich ihn hätte begraben können. So bedeckte ich seine nackte Leiche mit einem Stück Blech, das sich beim Aufprall vom Flügel des Flugzeuges gelöst hatte. In der Tasche seines Uniformmantels fand ich zwar kein Soldbuch, dafür aber einige zerknitterte, von Schweiß und Blut fast unleserlich gewordene Feldpostbriefe. Adressiert an Hauptmann Jakob Weiss, Charkow.

 Bevor ich zwischen Unterholz und Bäumen verschwand, blickte ich noch einmal zurück: am Flugzeugrumpf hackten Raben und Krähen im Streit um die immer schmaler werdenden Beute aufeinander ein.

Es war fast Mitternacht, bevor ich mich hinter einer Schneewehe wieder in Mantel und Decke hüllte. Trotz Kälte und Hunger war mein Schlaf tief und traumlos. Als ich erwachte stand hoch über mir eine bleiche Sonne.

 Weißt Du was Hunger ist? Das beginnt als dumpfes Grollen, das zu stechenden Schmerzen wird, die schließlich in ein Gefühl übergehen, das fast einem Drogenrausch gleicht.

 Zwei weitere Tage stolperte ich Richtung Norden. Aber ich war nicht mehr allein. Ich war überzeugt, dass neben mir meine tote Frau durch den Schnee stapfte. Und, dass sie gekommen war, mir auf dem Weg beizustehen.

 Ich weiß was Du jetzt denkst. Ich bin Arzt. Mir ist klar, was Halluzinationen sind. Aber das ist mir egal. Meine Frau kam mit dem Besten, was sie hatte: ihrem Lachen. Und ohne sie wäre ich zweifellos spätestens am Ende dieses Tages irgendwo im Unterholz krepiert. So aber trieb mich ihre Anwesenheit weiter.

 Am Abend des fünften Tages meinte ich irgendwo weit voraus einen Hund bellen zu hören.

 Obwohl bis zur Küste hinauf noch ein gutes Stück Weg blieb, war die Gegend, die ich erreicht hatte schon spärlich besiedelt.

 Einmal lief mir in einiger Entfernung ein Hase über den Weg. Ich zog die Pistole des Hauptmannes und legte auf ihn an. Entschied mich aber im letzten Augenblick anders und ließ ihn ziehen. Ich hatte zuviel Angst vor dem Lärm des Schusses.

 Ich bilde mir ein, dass ich mir immer noch genug Verstand bewahrt hatte, die ersten schmalen Pfade auf die ich traf zu umgehen. Schließlich war das nicht mehr möglich. Ich musste mich einer neuen Realität stellen: von hier an konnte ich jederzeit unverhofft auf Menschen treffen.

 Wann ich Lachen, Stimme und Gestalt  meiner toten Frau wieder verlor, weiß ich nicht. Sie verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. 

 Ich starrte aus einem Gebüsch heraus, auf das erste Haus, das ich sah. Eine Stunde oder länger hockte ich dort. Bis mir aufging, dass es unbewohnt sein musste, weil sich darin weder etwas bewegte noch Licht brannte oder Rauch aus dem Schornstein drang.

 Ein trüber Tag, ebenso neblig und grau schon am Morgen, wie die Tage zuvor.

 Ich hielt es nicht mehr aus. Eine Stunde später kroch ich aus dem Gebüsch auf den Weg der zum Haus führte. Ich klopfte Hose und Uniformmantel vom Schnee frei und trat an die Tür. Ich hätte mir das Klopfen sparen können: die Tür stand offen. Ich trat ein, und mein erster Gedanke war, dass das Haus aufgegeben sein musste. Auf dem Herd standen zwar immer noch Töpfe und im Küchenschrank fand ich säuberlich übereinander gestapelt Tassen, Teller und Besteck. Aber es war kalt hier drin. Und weder im Kamin noch dem Ofen fand ich Asche. Alles war so sauber. Als hätten die Bewohner das Haus geputzt bevor sie gegangen waren

 Kälte kann vieles. Doch gegen den Geruch, der mir nach kurzer Zeit in die Nase stieg, konnte sie nicht ankommen. 

Ich stieg in den zweiten Stock hinauf.

Der Hausherr hing an einem Strick von der Schlafzimmerdecke. An dem Haken, an den er den Strick geknotet hatte, hing zuvor der Leuchter. Er hatte ihn abmontiert und aufs Bett gelegt, Und danach sogar die Tagesdecke wieder glatt gezogen.

Im Ankleideraum nebenan fand ich seine Frau und ihr Kind. Sie hatten Einschusslöcher in der Stirn. Die Frau hielt ihr totes Kind im Arm, als hätte sie es noch zu schützen versucht. 

 Er musste sie mit seiner Pistole in das Zimmer getrieben haben. Sie wussten, was er mit ihnen vorhatte. Ihr Anblick machte mich fast wahnsinnig.

Ich trug die Sachen eines toten Mannes und kam aus einem KZ. Man sollte meinen, das Lager hätte mich für den Rest meines Lebens für anderer Schmerzen und Sterben unempfänglich gemacht. Aber das hat es nicht. Ein paar hundert achtlos übereinander geworfene Leichen hinter einem Stacheldrahtzaun sind nichts. Jedenfalls nichts in dem Sinne, in dem Menschen Menschen sind. Was dort übereinander gestapelt wurde, waren keine Menschen mehr. Sondern bloß Schalen: gesichtslos, entkernt, wie Laub im Wind.

 Wenn du im Magen eines Tieres existierst, lernst Du im Rhythmus seines Herzschlages zu leben. Und Existenz heißt da wie überall sonst Gewohnheit. Gewohnheit ist das Einzige, was dich dort vor dem Irrsinn schützt. Im Lager lauerte der Tod hinter jedem Gesicht, jeder Minute, jeder Sekunde, jedem Stein, jedem Stück Stacheldraht. Doch die Lager waren die Ausnahme.

 In den Lagern haben sie versucht selbst die Toten noch davon zu überzeugen, dass ihnen der Makel, der sie dahin gebracht hatte zu Recht anhaftete.

Gleich, wie hoch Asche und Schädelberge auch wuchsen – die Lager waren nicht das Leben, die Lager waren nicht Normalität. Du musstest nur einen Blick über den Zaun werfen und wusstest, dass jede Gefängnismauer immer auch zwei Seiten hatte. Und, dass der Sinn einer Gefängnismauer genauso darin besteht, die Gefangenen von den Freien zu trennen, wie die Freien von den Gefangenen.

 Der schlimmste Fehler, den ein Gefangener also machen kann, ist die Mauern um sich herum als das Ende der Welt zu akzeptieren. Diesen Fehler habe ich nie gemacht. Selbst in den schlimmsten Zeiten wusste ich, dass es außerhalb des Zaunes ein anderes Leben gab und dieser Mann an der Schlafzimmerdecke hatte es sinnlos verschwendet.

Ich ging wieder herunter und suchte  nach der Speisekammer. Ich fand ein paar Konserven und eingekochte Marmelade. Mit denen ich mich nicht erst lange aufgehalten habe. Hinter den Konserven versteckt fanden sich auch zwei Flaschen Cognac. Ich schlug einer von ihnen an der Tischkante den Hals ab. Der erste Schluck war wie ein Faustschlag ins Hirn.

Eine Weile blieb ich im Mantel am Küchentisch sitzen und trank. Dann zog ich die Pistole des Hauptmanns, stieg die Treppe rauf und feuerte das halbe Magazin auf die Leiche des Mannes ab.

Ich habe viele furchtbare Dinge gesehen. Aber dem Umstand, dass dieser Kerl seine Frau bevor er sie in den Verschlag zum Sterben trieb, das Haus hatte putzen lassen, gebührt darunter der Ehrenplatz. 

 Im Grunde unserer Seele sind wir Raubtiere. Intelligent, unersättlich und schnell. Alles, was wir in ein paar hunderttausend Jahren Entwicklung gegen unsere wahre Natur aufzubieten haben, ist bloß eine dünne Schicht aus Ritualen, die wir Zivilisation nennen.

Ich weiß, dass es merkwürdig klingen mag, doch erst im Angesicht dieses Mannes an der Schlafzimmerdecke, begriff ich, dass es keinen Sinn hatte, sich einzureden, dass es bei diesem einen Auschwitz bleiben würde.

Nein, die Lager waren nur der Auftakt eines blutigen Gedichts, dessen letzte Strophe noch nicht einmal gedacht worden ist. Das bisschen Zivilisation hat uns vor DIESEM Auschwitz sowenig schützen können, wie es uns vor all den folgenden wird schützen können.

Mit jeder Kugel, die ich in die Leiche dieses Mannes getrieben hatte, erweckte ich ein Stück mehr den toten Hauptmann Jakob Weiss zu neuem Leben. Und ich war niemals derart feige mir selbst gegenüber, dass ich es mir nicht auch vom ersten Augenblick an offen eingestanden hätte.


Soweit der Auszug aus dem Roman. Er bildet eine passende Überleitung zum nächsten Text hier. Denn jene Geschichte, wie Wajda in dem leeren Haus auf die Überreste der Familie stösst, ist wahr. Ein Onkel hat sie mir vor vielen Jahren einmal erzählt.  Wann und weshalb er sie mir erzählte und wieso ich diese Geschichte dann in einen Roman einfügte, davon berichtet sich der nächste Blogtext.

3. Skat am Revanchistentisch, oder Ostpreußen liegt bei Hawaii

Ostpreußen – davon hat man davon gehört, na klar. Das wurde im Schulunterricht erwähnt. Ostpreußen war mal ein Teil von Deutschland, lag an der Ostseeküste und fiel nach dem Krieg an Polen und die Sowjetunion. Und was weiss man sonst noch darüber unter den jüngeren Generationen?
Nichts bis gar nichts fürchte ich. 
Für die Mehrheit der jüngeren Generationen in diesem Land ist Ostpreußen wohl in etwa so fern und exotisch wie Nordosthawaii oder Papua Neuguinea.
Für mich sah das jedoch schon immer ein wenig anders aus. 
Denn ein Teil meiner Familie stammt aus Ostpreußen, etwa aus dem Gebiet, in dem sich Catherinas Gut in meinem Buch befindet.
Ich besitze einen Brief, geschrieben im Dezember 1944 von einem Mann, der sich bereit machte, mit ein paar Pferden und einem Heuwagen voller Möbel, Papiere und Bilder seiner Heimat den Rücken zu kehren. Er ahnte wohl dass es ein Abschied für immer werden würde.
Doch er war auch ein typischer Ostpreuße. Und diese Leute gaben sich nicht so leicht geschlagen. Das war ein sturer, hart arbeitender Menschenschlag, ziemlich von sich selbst und der eigenen Kraft überzeugt. Es gehörte schon mehr als nur ein Weltkrieg und die gesamte Rote Armee dazu, um diesem Menschenschlag ihre Hoffnungen auszutreiben.
An dem Tag, als er diesen Brief schrieb, wusste dieser Mann nicht an welcher Front seine Söhne und Neffen kämpften. Er wusste ja noch nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben waren.
Dennoch schreibt er in jenem Brief, er hätte eine gute, feste Metallkiste neben dem Haus vergraben, und in jener Kiste sei genug Werkzeug, um damit das Haus wieder aufzubauen, sollte es zerbombt oder zerschossen werden. Und wer immer von ihnen zuerst in die Heimat zurückkehre, der solle jene Kiste ausgraben und damit beginnen wieder auf zu bauen, was zerstört worden war.   Der Mann welcher jenen Brief schrieb war mein Urgroßvater.
Ich weiss, wo dieses Haus einst gestanden hat. Ich habe mir fest vorgenommen eines Tages dahin zu fahren, in den nun russischen Teil Ostpreußens, und zu dem Ort zu gehen, an dem es stand.
Wer immer dort jetzt leben mag, ob Pole, Russe, Ukrainer, Kasache, Litauer oder Lette, ich hoffe er wird mich als Gast und nicht als Gegner empfangen. Und ich hoffe, wer immer er oder sie sein mag,  wird ausserdem nichts dagegen einzuwenden haben, wenn wir gemeinsam einer Flasche den Hals brechen, auf unsere gegenseitige Gesundheit anstoßen und dann – ja dann uns womöglich mit Hacke und Schaufel zusammen aufmachen, um an jener Stelle nah beim Haus nach dieser guten,  festen Metallkiste zu graben, und nachzusehen, ob sie die Zeiten und Kriege tatsächlich überdauert haben mag. 
Man mag einwenden: auch andere Leute besitzen merkwürdige Briefe von ihren Vorfahren und kommen dennoch nicht auf die Idee Romane über so exotische Gegenden wie Ostpreußen zu schreiben.
Das ist richtig.
Aber vor diesem Brief kam ja der „Revanchistentisch“.
Der „Revanchistentisch“?
Ja, das war jener Tisch, an dem sich bei Familienfeiern, die älteren Damen und Herrn versammelten und sich in ihrem seltsamen Dialekt darüber austauschten, wer neulich gestorben war, oder krank geworden, oder in ein Altenheim umgezogen.  Unter uns jüngeren Familienmitgliedern wurde dieser Tisch scherzhaft als  „Revanchistentisch“ bezeichnet und die jährlichen Heimattreffen, zu denen die Grosseltern fuhren, waren nur folgerichtig als „Revanchistentreffen“ bekannt. Natürlich hatten die älteren Damen und Herren am „Revanchistentisch“ ihre alte Heimat nicht vergessen. Aber da war auch keiner darunter, der je ernsthaft an der Gültigkeit der Grenzen zu Polen und Russland gezweifelt hätte, oder sich gegen Willy Brandts Ostverträge stemmte. Erika Steinbach war an jenem Tisch jedenfalls eine suspekte Figur. Zumal sie noch nicht einmal den richtigen „Stallgeruch“ mitbrachte, da ihre Familie ja nie wirklich in Ostpreußen ansässig gewesen war und die Leute an unserem „Revanchistentisch“ auf einer mehrere hundert Jahre währende Familientradition in Königsberg, an der kurischen Nehrung oder dem Frischen Haff  verweisen konnten.
Manchmal liess man sich an jenem Tisch auch dazu hinreissen, von etwas anderem als nur Hochzeiten, Krankheiten und Beerdigungen zu reden, manchmal sprach man da auch über den Krieg oder die Flucht. Ich habe bei solchen Gelegenheiten in der Regel meine Ohren aufgesperrt und aufmerksam zugehört. „Wolfswechsel“ verdankt diesen Erzählungen am „Revanchistentisch“ zwei ausserordentliche Episoden. Die beide auf Tatsachen beruhen und die mir lange Jahre niemals wieder wirklich  aus dem Sinn gingen, bis ich sie in dem Roman verarbeiten konnte.
Würde man heute im Jahr 2011 den guten alten „Revanchistentisch“ noch einmal besetzen wollen, so würde er nahezu leer bleiben, weil kaum irgendeiner von all den alten Herrschaften noch am Leben ist, um seinen angestammten Platz daran einzunehmen.
Ihre Geschichten sind mit ihnen gegangen. Und was waren manche davon doch für faszinierende Erzählungen.
Keiner hat sie je aufgeschrieben. Kaum einer, der sich bis heute dafür interessiert. Schliesslich waren das die Geschichten der „kleinen Leute“.  Geschichten, für die selten genug Raum in den Geschichtsbüchern gewesen war, und für die die Historiker ihre Federn nicht gespitzt hätten.  Dennoch sind es gerade diese Geschichten, in denen sich, wie in einem Brennglas, die grosse Historie in den Schicksalen der kleinen Leute spiegelte und erklärte.
Denn „keiner besitzt je irgendetwas wirklich. Mit einer Ausnahme: seiner Geschichte. Doch selbst die wird erst dann wirklich zu SEINER Geschichte, nachdem sie wenigstens einmal erzählt wurde. Denn erst im Erzählen scheidet sich Dunkles von Hellem, verwischen die Grenzen, wird Gut zu Böse und Böse zu Gut. Und - lernt man das eine vom anderen auf ganz persönliche Art  zu unterscheiden.“
Geschichte besteht nicht aus Geschichten, das ist schon wahr. Aber sie besteht eben auch aus mehr, als nur den trockenen Daten von Königskrönungen, Schlachten, Eroberungen und Kriegen. 
Diese „kleinen Leute“ mit ihren vermeintlich „kleinen„ Schicksalen jedenfalls konnten wenn sie schon nicht auf die Historiker zu hoffen hatten, um ihre Geschichten zu erzählen, immer noch darauf setzten, dass es zuweilen der ein oder andere unter den  Schriftsteller tat. 
Genau das habe ich mit „Wolfswechsel“ zwar nicht nur, aber eben auch versucht.


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